Erfahrungen aus der 'NDS'

In der vergangenen Woche fand in Berlin zum ersten Mal die ‚Nacht der Solidarität‘ statt. Viele Mitglieder der KHSB waren bei der Aktion dabei. Einige von ihnen erzählen an dieser Stelle von ihren unterschiedlichen Erfahrungen.

Darüber hinaus werden Studierende für die kommende Ausgabe unseres Hochschulmagazins von ihren Eindrücken und Erlebnissen berichten.

 

Gaby Straßburger, Professorin für Sozialraumorientierte Soziale Arbeit

„Wir waren in der Gropiusstadt unterwegs - viele Hochhäuser und Grün dazwischen. Für alle im Team Neuland und damit im Dunkeln ein gewisses Abenteuer. Unser Gebiet war auch wirklich sehr groß.

Falls wir tatsächlich Obdachlose getroffen hätten, hätte die vermutlich Zeit nicht gereicht. Doch wir haben niemanden gesehen. Um sicherzugehen, dass das nicht an uns liegt, haben wir immer wieder Anwohner*innen gefragt, ob sie hier manchmal Obdachlose sehen. Die meisten wollten uns in andere Stadtviertel schicken, denn dort gäbe es auf jeden Fall welche; einige konnten sich auch an vereinzelte Personen in unserem Gebiet erinnern, die ihnen im Sommer aufgefallen waren.“

 

Christina Specovius, Referentin des Präsidiums

„Die Bilanz der ‚Nacht der Solidarität‘ in meinem Zählteam: zwei Obdachlose. In Decken und Schlafsack gehüllt haben sie auf unsere Ansprache nicht reagiert. Eigentlich weiß ich nichts über sie außer: Sie liegen im Freien bei drei Grad Celsius und Nieselregen und sind kaum gegen das Wetter geschützt.

Mit der Zählung sei noch keiner und keinem Obdachlosen geholfen, wurde gegen die 'Nacht der Solidarität' ins Feld geführt. Andererseits können wirksame Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit nur auf der Grundlage bestmöglicher Informationen entwickelt und umgesetzt werden, so dass sie auch die Zielgruppe erreichen.

Unser Zählgebiet ist das Bayerische Viertel in Schöneberg, Planungsraum 04051652 im Monitoring Soziale Stadtentwicklung des Landes Berlin. Dieses Monitoring gibt es seit dem Jahr 2000, und seitdem können Politiker*innen, Planer*innen und Sozialarbeiter*innen soziale Benachteiligung besser beschreiben. Aber können sie auch besser helfen?

Die Zähltour dauert knapp drei Stunden, wir laufen etwa zehn Kilometer. Zwei Obdachlose auf diesem halben Quadratkilometer – ist das viel, ist das wenig? Ist das wichtig? Es sind zwei zu viel, die es aus eigener Kraft kaum schaffen können, aus der Obdachlosigkeit herauszukommen.

Am Ende der Zählung habe ich kalte Hände und müde Füße und bekomme im Zählbüro etwas Warmes zu trinken. Die beiden Obdachlosen meines Zählgebiets liegen immer noch draußen. Trotzdem glaube ich an den Erfolg der Aktion:

Weil die ‚Nacht der Solidarität‘ als Pilotprojekt durchgeführt wurde, das es so in Berlin zuvor noch nicht gab, und weil die Senatsverwaltung für Soziales sich dabei innovativ und experimentierfreudig gezeigt hat.

Weil die Probleme von Obdachlosen eine ungewohnte und ungewöhnliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in den Medien erhalten haben, bei der die üblichen Ausgrenzungsmechanismen ihnen gegenüber nicht im Vordergrund standen.

Weil besseren Informationen über Obdachlose auch bessere Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit folgen, vielleicht nicht unmittelbar aus den verschiedenen Sozialverwaltungen im Land und in den Bezirken heraus, vielleicht erst durch den steigenden Legitimationsdruck, unter den es Politik und Verwaltung bringt.

Weil etwa 3.000 Berliner*innen ihr Interesse für die Probleme von Obdachlosen gezeigt haben und als Freiwillige persönlich etwas eingesetzt haben dafür, diese Probleme besser zu verstehen und zu lösen. Wenn sie alle gute oder wenigstens keine schlechten Erfahrungen in dieser Nacht gemacht haben, werden sie wichtige Multiplikator*innen für das Thema Obdachlosigkeit und für Citizen Science-Projekte zu sozialen Problemen.“

 

Prof.‘in Dr. Petra Mund, Professorin für Sozialarbeitswissenschaft und Sozialmanagement

„In der ‚Nacht der Solidarität‘ war ich mit meinem Team im Gleim-Viertel unterwegs. Es wurde noch Teamleitungen gesucht und ich bin ‚als Joker‘ reingerutscht.  Unsere fünfköpfige Gruppe hat keine obdachlosen Menschen angetroffen. Ungeachtet dessen war es eine lehrreiche Erfahrung  – sozusagen ‚Sozialraumerkundung by night‘. Dabei hat sich einmal mehr gezeigt wie wichtig eine gute Ortskenntnis für Strukturen sozialer Unterstützung ist. Insgesamt wurden in dem Suchbereich, zu dem auch unsere Route gehörte, zwei wohnungslose Menschen angetroffen.

Mich haben außerdem im Vorfeld und in der ‚Nacht der Solidarität‘ selbst die umsichtige Planung und der professionelle Umgang mit den logistischen Herausforderungen einer Aktion in dieser Größenordnung sehr positiv überrascht.“

 

Prof. Dr. Jens Wurtzbacher, Professor für Sozialpolitik

„Ich war dem Zählbüro Sprengelhaus als normaler Zähler zugeteilt. Unterwegs war ich schließlich mit einer Sozialarbeitsstudentin der EHB und einem Masterstudenten der Politikwissenschaft an der FU im Brüsseler Kiez in Wedding. Der Zählbezirk war relativ weitläufig.

Während unserer Erkundungen hatten wir Gelegenheit, über Sozialpolitik, bedingungsloses Grundeinkommen und Obdachlosigkeit zu diskutieren. Wir haben mehrere obdachlose Personen angetroffen und Zeit gefunden, auch abseits des Fragebogens mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Die Treffen waren zwar kurz, deswegen aber nicht minder bewegend. Ich habe in verschiedener Hinsicht viel gelernt. Jederzeit wieder.“