Semestereröffnungsgottesdienst

Hier finden Sie zum Nachlesen die Ansprache von Karen Siebert (KSG) vom Semestereröffnungsgottesdienst.

 

Alles hat seine Zeit

Ansprache von Karen Siebert (KSG Berlin) zur Semestereröffnungsfeier der KHSB am 24.09.2021

Perikope

Kohelet 3,1-13

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, / eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen,
eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen, / eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen,
eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz;
eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit zum Steinesammeln, / eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum Verlieren, / eine Zeit zum Behalten/ und eine Zeit zum Wegwerfen,
eine Zeit zum Zerreißen/ und eine Zeit zum Zusammennähen, / eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden,
eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen, / eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden.
Wenn jemand etwas tut - welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt?
Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht.
Das alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit. Überdies hat er die Ewigkeit in ihr Herz hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte.
Ich hatte erkannt: Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn, ein jeder freut sich und so verschafft er sich Glück, während er noch lebt,
wobei zugleich immer, wenn ein Mensch isst und trinkt und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennenlernt, das ein Geschenk Gottes ist.

Einleitung

Als Pater Max, Annette Edenhofer und ich beim Vorbereiten dieses kleinen Gottesdienstes festgestellt haben, dass die heutige Lesung den bekannten Kohelettext enthält, habe ich ein bisschen gestöhnt. Das ist mir zu abgenudelt und kitschig, war mein erster Gedanke.
P. Max hat mir dann aber versichert, dass ein bisschen Kitsch nicht schadet, in einer Situation, in der sie sich – getrennt durch die lange Coronazeit – endlich wiedersehen.
Also spreche ich zu Ihnen heute über Kohelet.

Rhythmus und Gegensätze prägen das Leben

Der Prediger in Kohelet beschreibt den Rhythmus des Lebens:

  • Geboren werden und Sterben.
  • Pflanzen und Ernten.

Der Rhythmus in dem das Leben seit Urzeiten (oder zumindest seit der Zeit des Ackerbaus) läuft und dem wir ausgeliefert sind.
Ein Rhythmus, der in der westlichen Welt aber zunehmend verdeckt und unsichtbar wird. Geburten finden selten zu Hause statt, genauso das Sterben. Und trotz der neuen Sehnsucht nach Stadtgärten und urbanem Grün, ist bei der Wahl unserer Speisen kaum noch der Rhythmus der Jahreszeiten erkennbar.
Weiter beschreibt der Prediger die Gegensätze, die unser Leben prägen:

  • die Gewalt, die in uns steckt mit „Töten und Einreißen“ und unsere Versöhnungs- und Schaffenskraft mit „Heilen und Bauen“.
  • er beschreibt die Emotionen, die uns schütteln: Weinen und Klagen, Lachen und Tanzen.
  • die Beziehungen unseres Lebens umschreibt er charmant: Steine werfen (das steht für Sex) und Steine sammeln (das steht für Phasen der Enthaltsamkeit). Eine Zeit für Nähe (Umarmungen) und eine Zeit der Trennung (sich aus der Umarmung lösen)
  • Auch Besitz, Leistung und Anerkennung haben ihre Zeit: die Zeit zum Suchen und Behalten; die Zeit zum Verlieren und Wegwerfen.
  • Es gibt Zeiten des Kommunikationsabbruchs – bildlich „Zerreißen“ - und Zeiten der Versöhnung (Zusammennähen). Eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden.
  • Schließlich die Beziehungserfahrungen: eine Zeit zum Hassen und eine Zeit des Kriegs - eine Zeit der Liebe und (hiermit endet die Aufzählung verheißungsvoll) eine Zeit des Friedens. ( In Anlehnung an Pfarrer Willi Stöhr https://www.predigtpreis.de/predigtdatenbank/predigt/article/predigt-ueb...)

Alles ist befristet, zeigt uns der Prediger. Jedem Anfang wohnt kein Zauber inne, sondern bereits sein Ende. Das sind die Bedingungen unter denen wir leben (müssen). Doch jedem Ende wohnt auch wieder ein neuer Anfang inne. Denn ist die eine Zeit vorbei, beginnt die nächste.

Welche Zeit erleben Sie gerade?

Vielleicht spüren Sie das heute ein bisschen, wo wir hier versammelt sind. Vielleicht beginnt ihre Aufgabe oder ihre neue Verantwortung an der KHSB erst gerade. Oder sie endet.
Möglicherweise sind sie voll Aufregung und Vorfreude, oder etwas wehmütig oder gar ängstlich.
Vielleicht sind sie auch in ruhigem Fahrwasser und weder am Anfang noch am Ende.
Nehmen sie sich doch ein wenig Zeit und überlegen Sie:
Welche Zeit ist gerade für mich?
Ein Anfang oder ein Ende?
Eine Phase des Schaffens und der Leistung oder eine Phase des Abbaus?
Eine Phase der Verliebtheit und Nähe oder eine Phase der Trennung und Trauer?
Sammeln Sie gerade? Titel, mobile und immobile Besitztümer? Anerkennung und Prestige? Wissen und Kompetenz?
Oder lassen Sie los?
Den Job, die Kollegen?
Vielleicht verfällt ihr Wissen schon langsam? Oder Jüngere ziehen an ihnen vorbei?
Vielleicht verkleinern Sie sich (eine kleinere Wohnung, ein kleineres Auto) oder sie treten beruflich bewusst kürzer?
Vielleicht sind Sie auch im Streit? Oder in der Phase der Versöhnung und Harmonie?
Überlegen Sie ruhig kurz.

Alles ist Windhauch

Vielleicht habe ich Sie jetzt - gemeinsam mit dem Prediger - ein bisschen runtergezogen: Nichts hat Bestand! Schlimmer noch: wir können scheinbar keinen Einfluss nehmen: Glück und Unglück passieren, ob wir wollen oder nicht, ob wir uns anstrengen oder nicht: „Welchen Vorteil hat der Mensch davon, dass er sich anstrengt?“ fragt der Prediger.
Diese Aussage des Predigers trifft mich tatsächlich bei meiner Berufsehre. Ich berate viele Studierende - darunter auch einige der KHSB.
Ich versuche, die Zeiten des Glücks und des Habens mit ihnen zu verlängern und die Zeiten des Unglücks und des Mangels zu verringern.
Auch Sie, als Mitarbeitende der KHSB, arbeiten daran, Menschen in die Lage zu versetzen, die Grenzen des Unglücks zugunsten des Glücks zu verschieben.
Ist das alles verlorene Liebesmüh?
"Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück", verkündet der Prediger. Glück kann man nicht halten, es zerrinnt zwischen den Fingern, Besitz, Prestige, Anerkennung und unser gesammeltes Wissen wird uns spätestens am Lebensende genommen. An anderer Stelle spricht der Prediger:
"Der Gebildete hat Augen im Kopf, der Ungebildete tappt im Dunkeln. Aber ich erkannte auch: Beide trifft ein und dasselbe Geschick. Da dachte ich mir: Was den Ungebildeten triff, trifft als auch mich. Warum bin ich dann über die Maßen gebildet? Und ich überlegte mir, dass auch das alles Windhauch ist." (Koh 2, 14-15).
Es trifft also auch Sie, werte Herren und Frauen Professoren.

Was tun?

Welche Möglichkeiten haben wir, mit der Erkenntnis des Windhauchs umzugehen und nicht in Depression zu versinken?

  • Fatalistische Schicksalsergebenheit einüben? Ich kann die Umstände des Lebens nicht beeinflussen, der Mensch denkt, Gott lenkt. Ich lasse alles über mich ergehen, denn ich kann eh nichts ändern.
  • Oder im buddhistischen Geiste das Leben als Leiden akzeptieren lernen und es durch Distanzierung überwinden?
  • Oder wähle ich den Weg des Hedonisten und hole aus den guten Phasen noch das Letzte heraus? (Entschuldigen Sie die vereinfachte Darstellung in allen drei Punkten). 

Die Antwort des Predigers: Von all dem etwas und doch ganz anders

  1. Keine Schicksalsergebenheit, sondern ein positiver handelnder Fatalismus:
    Es geht darum, dass Leben in Gegensätzen zu akzeptieren.
    Die Zeit des Glücks zieht vorbei, aber genauso die Zeit des Unglücks.
    Ohne das Unglück zu kennen, können wir Glück nicht erfahren.
    Der Trick ist aber, die Zeit zu identifizieren. In welcher Phase befinde ich mich gerade?
    Und was ist in dieser Phase, die Aufgabe, die Gott mir gegeben hat? Denn, so der Prediger, „der Mensch müht sich im Auftrag Gottes“. Nichts-Tun ist keine Option. Sondern: Wie kann ich die Jetzt-Zeit nutzen und darin meine Handlungskompetenz entfalten? 
    Mehr noch: es gilt zu akzeptieren, dass Gott alles auf vollkommene Weise getan hat. Allem Glück und allem Unglück wohnt eine Schönheit inne, die sich uns aus menschlicher Perspektive entzieht. Und obwohl wir den Moment des Glücks nicht halten können, so ist der doch für Gott unendlich.
  2. Ein völlender, fröhlicher, schlemmender Buddhismus:
    Die Akzeptanz der menschlichen Natur hat der Prediger mit dem Buddhismus gemeinsam.
    Doch statt auf Mäßigung und Distanz, setzt er auf Freude, Genuss und Fülle. Das pralle Leben mit allen Sinnen auskosten.
    Glück gibt es nur, indem der Mensch sich freut. Essen, Trinken und den Besitz genießen in den guten Phasen ist der Rat des Predigers. Nur so kann er das Glück kennenlernen.
  3. Ein wertschätzender Hedonismus
    Doch sind damit nicht dem Egoismus  dem Hedonismus Tür und Tor geöffnet?
    Nein, denn es geht um die rechte Geisteshaltung.
    Die Geisteshaltung, die die Momente der Freude, der Fülle und des Genusses als kostbares Geschenk und Gabe Gottes begreift. Und nicht als etwas, das mir zusteht.
    Wer um die Kostbarkeit des Geschenkes weiß, wird nicht hinunterschlingen.
    Wer um die Großzügigkeit des Schenkers weiß, wird Dankbarkeit verspüren und nicht Gier.
    Wer um die Vergänglichkeit der Fülle weiß, wird diese umso mehr schätzen.
    Wer die guten Zeiten erkennt, schätzt und freudig annimmt, wappnet sich mit gutem Mut für die schlechten Phasen.
    Wie die Maus Frederick - um den versprochenen Kitsch zu liefern - können wir in diesen Phasen Schätze sammeln, die uns in schlechten Zeiten Wärmen und Stärken.
    Oder vielleicht etwas nüchterner, wie die Süddeutsche vor 4 Tagen feststelle: Nostalgie kann helfen, den Alltag besser zu ertragen.

Schluss

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen der KHSB: lasst uns gemeinsam Gottes Auftrag erfüllen und das Glück im Jetzt finden, indem wir heute zusammen den Beginn des neuen Semesters feiern, Wiedersehen und Gemeinschaft, Kennenlernen und Abschied nehmen, Ende und Aufbrüche, Essen und Trinken.

Amen.

In Anlehnung an Pfarrer Willi Stöhr https://www.predigtpreis.de/predigtdatenbank/predigt/article/predigt-ueb...