Dokumentation - Abschiedsveranstaltung von Sabine Jungk
Am 21.05.2025 verabschiedete sich die Hochschule herzlich von der langjährigen Kollegin und Professorin, Dr. Sabine Jungk. Das Institut für Gender und Diversity in der sozialen PraxisForschung hatte dafür zu einer besonderen Veranstaltung unter dem Motto „Lichtblicke“ eingeladen.
Wissenschaftler*innen der Hochschule sowie ein Gastsprecher gaben kurze Einblicke in Entwicklungen und Erkenntnisse aus ihrer Arbeit, die Mut machen und Hoffnung geben. Die Reden von Stephan Höyng, Ulrike Brizay und Sabine Jungk (alle KHSB) sowie von Andreas Hess (University College Dublin) dokumentieren wir hier.
Ja, von den Macher*innen der Letzten Generation lernte ich, offene politische Versammlungen für wirklich alle Bürger*innen durchzuführen.
Da hätte ich natürlich schon vor 20 Jahren Prof. Leo Penta hier beim Community Organizing über die Schulter schauen können.
Aber wie das so ist: wir saßen zwar über ein Jahrzehnt zusammen im Akademischen Senat, aber ich habe mir nie Zeit für sein Thema genommen. Erst musste mir klar werden, wie gravierend die Zerstörung des bisherigen Weltklimas schon sehr bald unseren Alltag und den unserer dem besonders ausgesetzten Adressat*innen verändern wird.
Ich begann meine teilnehmende Forschung zur Klimabewegung im April 2023: Die Letzte Generation startete gerade ihre Frühjahrskampagne und war sehr offen für neue Leute. Von den vielen Aktionen in Berlin erreichten nur die Sitzblockaden auf Straßen und die Tomatensoße auf Bildern im Museum eine riesige Medienöffentlichkeit. Die Aktionen waren durchgehend gewaltfrei, die Forderungen waren einfach: Tempo 130, ein Bürgerrat Klima und ein Gespräch mit dem Kanzler. Ich nahm teil am Kampagnenauftakt in der Thomaskirche am Mariannenplatz, diversen Online-schulungen und –meetings, an einem Gewaltfreiheitstraining im Park und an Protestmärschen. Ich beobachtete Straßenblockaden, war an der Gefangenensammelstelle um Festgenommene wieder in der Freiheit zu begrüßen und war oft in der Küche für alle, dem Kommunikationszentrum der Aktivist*innen.
Ich hörte die Anrufe bei Leuten, die sich bei Werbeveranstaltungen im Kiez für die Letzte Generation interessiert hatten. Ich beteiligte mich im Awarenessteam, so etwas kannte ich bereits von meiner Genderarbeit, und bot Entspannungsübungen für Aktivist*innen an. Kurz und gut: ein sehr aktives, schönes Forschungssemester.
Ich lernte, dass die öffentlichen Aktionen nur der geringste Teil der Aktivitäten dieser Gruppe waren, die Spitze des Eisberges. Und was für ungeheure motivierende und organisatorische Fähigkeiten hinter dieser Kampagne steckten. Und ich lernte, indem ich mich in die Materie des gewaltfreien Widerstands vertiefte, wie planvoll und wie zutiefst demokratisch diese Kampagne war.
Die Letzte Generation wurde trotz der leicht erfüllbaren Forderungen und gewaltfreier Methoden mit einer geballten Hetze von Medien, vielen Parteien, Politikern und Lobbyisten überzogen. Mit Kriminalisierung und Hass wurde an dumpfe Gefühle bei Bürger*innen appelliert, die Bewegung wuchs nicht so, dass sie vielen, die grundsätzlich mehr Klimaschutz wünschen, sich repräsentiert sahen und sich aktivierten. Es wird wohl keine glitzernde schöne Zukunft im Einklang mit der Natur mehr geben. Aber wir können in den kommenden Krisen und Katastrophen solidarisch miteinander sein und uns nicht gegeneinander ausspielen lassen.
Einige Mitglieder der Kerngruppe der Letzten Generation besannen sich auf ihre Fähigkeiten, von der Basis her Menschen zu organisieren und planten Lokale Versammlungen mit Bürger*innen. Nachbarschaften, die miteinander in Kontakt stehen und darin geübt sind, zusammen auf ein Ziel hin zu arbeiten, praktizieren Demokratie und bleiben in Krisen am ehesten handlungsfähig. Ja, denn es ist auffällig: Wenn sich eine repräsentativ zusammengestellte Bürger*innengruppe mit ihren unterschiedlichen Meinungen zusammensetzt und mit einem Problem befasst, entwickelt sie sehr oft gute Lösungen, Parteipolitiker finden die nicht und setzen solche auf breiter Basis entwickelten Lösungen leider kaum um, obwohl das ihre Aufgabe ist und Politiker in Ämtern dies auch versprochen haben: Schaden von uns abwenden.
Ich habe mitgemacht: Bürgerversammlungen können alle durchführen, selbst ich habe das gerade gemeinsam mit vier anderen Aktivist*innen gelernt und geschafft.
Es ist ein schönes Gefühl, etwas bewirken zu können! Vom Sommer 24 bis jetzt haben wir sieben öffentliche Versammlungen im Stadtgebiet Frankfurter Allee Süd in Lichtenberg durchgeführt, in dem manche aus unserer Gruppe wohnen.
Wie das geht? Wir haben angeschaut, welche soziale Probleme wir in dem Stadtgebiet sehen. Wir haben den Kiez durchforstet nach Projekten, die mit Bürger*innen an Lösungen arbeiten. Wir haben einen im Kiez bekannten neutralen Versammlungsort gesucht. Wir haben uns fit gemacht in Moderation und Durchführung von Versammlungen. Nach fast einem halben Jahr Vorbereitung haben wir im Sommer 2024 Gespräche an der Haustüre geführt, vor dem Supermarkt alle, wirklich alle Menschen angesprochen. Aufhänger war dieses „Tomatenbrett“.
Es ging uns darum, eine weitverbreitete tiefe Enttäuschung aufzugreifen, die viele Menschen und eben auch wir über diese immer weniger demokratische Demokratie empfinden. Wir haben Flyer und Plakate gedruckt, in Briefkästen verteilt und aufgehängt. Die Ankündigung war einfach und offen:
Das Leben wird schwerer. Wir tun was, gemeinsam! Und auf der Rückseite: Immer mehr Armut, Ausgrenzung und Streit – unser Leben wird immer schwerer. Doch wir nehmen das nicht mehr länger hin. Wir tun etwas. Du willst auch etwas tun? Komm in die Lokale Versammlung und mach mit!
Die Versammlungen waren aufgebaut wie unsere Teamtreffen: kurz, aber sehr strukturiert, mit Raum für Persönliches und Arbeit am Ziel.
Zur ersten Versammlung kamen 10 Leute. Wir haben gefragt, was im Kiez gut läuft und welche Probleme es gibt. Wir haben darauf geachtet, dass jede Person die gleiche Redezeit hatte, wir haben Stichpunkte aufgeschrieben und die wichtigsten Probleme herausgefiltert: zu wenig Nachbarschaftskontakt und ein seit Jahren leerstehendes großes Gewerbehaus mitten im Gebiet: das Mauritiuskirchcenter. Das drittwichtigste Thema, die Planungen zur A 100 bis zur Frankfurter Allee, hätte mich mehr interessiert, aber wir stellten unsere persönlichen Interessen zurück.
Wir haben dann zur zweiten Versammlung zum Thema Leerstand im Mauritiuskirchcenter eingeladen, und 75 Leute kamen. Wir haben Ideen für die Nutzung des Gebäudes und für politische Aktionen gesammelt. Unter den Teilnehmenden waren (ohne Extraeinladung) Lokalpolitiker*innen aller demokratischen Parteien, leitende Angestellte zuständiger Behörden und Vertreter*innen des Investors.
Das war für mich schon mal ein Erfolg: Unsere Mobilisierungsmacht wurde offensichtlich gefürchtet, man kam schauen, wer da was macht, es wurde gefragt, wo wir einzuordnen seien – gehörten wir etwa zur AfD? Welche Interessen vertraten wir? Wir blieben bei den Interessen der teilnehmenden Bürger*innen, die wir weiter ausformulierten.
Wir haben Teilnehmer*innen der letzten Versammlung angerufen und angemailt und um Hilfe beim Verteilen der neuen Plakate und Flyer gebeten. Auch die weiteren Lokalen Versammlungen im monatlichen Abstand hatten 15-30 Teilnehmende. Wir haben Arbeitsgruppen angeregt, die zwischen den Versammlungen Briefe an die Baustadträtin, Einladungen an den Investor formuliert haben und Besuche der Bauausschusssitzung organisiert haben. Diese Gruppen bilden inzwischen eine eigenständige Bürgerinitiative. Diese wurde von der Baustadträtin zu ihrer Versammlung zur Stadtentwicklung im Kiez eingeladen, hat den Investor getroffen und berät alle Neuigkeiten zum Thema mit der Baustadträtin…
So etwas kennen ja hier wahrscheinlich viele, das ist ja Soziale Arbeit. Aber das Aufgreifen der Bürger*inneninteressen wirkt auch politisch. Alle beteiligten Bürger*innen konnten merken: es tut gut, Missstände nicht auf sich beruhen zu lassen, sich zusammen zu finden und gemeinsam Veränderungen anzustoßen. Die üblichen Akteure bei solchen Baumaßnahmen haben gemerkt, dass Bürger*innen sich an diesem Leerstand massiv stören und dass sie sich deshalb versammeln. Dass sie diesmal beobachtet werden. Sie haben gemerkt, dass wir nicht auf die Erlaubnis von irgendjemand gewartet haben, uns zu melden. Und sie mussten befürchten, dass die Ergebnisse der Versammlungen nicht nur Briefe sind, nach denen man brav wartet, ob jemand reagiert. Dass Leute auch bereit waren, ihnen auf die Pelle zu rücken und sich nicht förmlich zurückzuhalten und abzuwarten (was der CDU-Abgeordnete empfahl). Ich habe auch etwas über Immobilienunternehmer gelernt: Sie verhandeln mit dem Bezirk, gleichzeitig verklagen sie ihn und bauen als letztes noch eine Drohkulisse auf. Seitdem verstehe ich auch die US-Politik viel besser.
Fazit
Der Leidensdruck Vieler scheint noch nicht groß genug dafür, dass ziviler Ungehorsam zu einer Massenbewegung gegen die undemokratische Klimazerstörung führen könnte. Aber gerade in den absehbaren Multikrisen brauchen Bürger*innen möglichst demokratische und solidarische Handlungsmöglichkeiten. Eine wichtige Grundlage können lokale Bürgerversammlungen in unserem Umfeld sein.
Solche offenen Prozesse zu organisieren macht viel Arbeit, aber wer mitmacht, kommt aus diesem lähmenden Ohnmachtsgefühl raus. Für alle Beteiligten ist das eine Selbstermächtigung, nicht mehr bloß Zuschauer zu sein, Konsument schlechter Nachrichten, sondern jemand, der selber etwas tut, an der Bewältigung der Krisen mitarbeitet und die Grundlagen dafür schafft. Nur so, das sagen auch die Aktivist*innen der Letzten, heute Neuen Generation, können sie in Zukunft ihren Kindern in die Augen schauen.
Und jetzt noch zur Hochschule: Als ich über den gewaltfreien Widerstand und die Lokalen Versammlungen auf einer Transferveranstaltung berichtete, meinte die Studiengangsleiterin, genau dieser politische Ansatz von Gemeinwesenarbeit fehle in der Ringvorlesung Handlungsansätze. Da werde ich diese Praxis jetzt vorstellen, und ich diskutiere die Themen auch in einem Seminar mit Studierenden. Wir haben uns da letzte Woche mit einer Professorin aus St. Gallen ausgetauscht, die ihrerseits von der erfolgreichen Klage der Schweizer Klimaseniorinnen berichtete. Und so kommt Gemeinwesenarbeit aus einer politischen und klimagerechten Praxis heraus wieder zurück in diese Hochschule – Und das ist ja vielleicht auch für die Hochschulleitung tröstlich: Auch wenn ich mal wieder was ganz anderes gemacht habe als universitäre Forschung, am Ende fließt doch wieder alles ein in eine aktivierende Bildung der Studierenden. Und Leo Penta könnte sich wohl auch freuen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,
17 Jahre habe ich hier an der KHSB die Professur für „Interkulturelle Bildung und Erziehung“ inne. Die Migrationsgesellschaft ist mein Fokus und mein Lichtblick ist
die wachsende Partizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland.
An dem Ziel der gleichberechtigten Repräsentation, Teilhabe und Mitgestaltung von Migrant:innen in unserer gemeinsamen, demokratischen und pluralen Gesellschaft mitzuwirken – dieses Motiv hat in meiner gesamten Berufsbiografie eine zentrale Stellung. Aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, Sie und euch in Beispiele aus einigen meiner beruflichen Felder jetzt mitzunehmen.
Das erste bezieht sich auf meine berufliche Tätigkeit im Medieninstitut des Volkshochschulverbands, dem Grimme Institut in den 1990er Jahren.
Der Journalist Giovanni di Lorenzo, aufgewachsen in Bayern, erzählte uns von seinen beruflichen Anfängen. Noch als Student, Mitte der 1970er Jahre, konnte er einer Lokalzeitung ein Interview mit dem Schauspiel-Star Marcello Mastroianni anbieten, große Sache. Es wurde publiziert – allerdings unter dem Namen „Hans Lorenz“
Di Lorenzo hatten wir als Role-Model gewonnen in einem Modellprojekt für hochqualifizierte Migrantinnen mit Interesse an der Arbeit als Journalistin.
„More color in the media“ hieß das EU-Projekt, mein aufregendstes und nervenaufreibendstes Projekt. Wie unsere fünf europäischen Partnerorganisationen wollten wir junge Menschen mit Migrationsgeschichte in die journalistischen Volontariate der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender bringen. Sichtbarkeit in den Medien versprach uns besondere Impulse für positive Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu geben – gerade auch angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus und der Kritik an einseitigen Perspektiven in der Berichterstattung.
Die interkulturelle Öffnung in den Öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten war dürftig: Der WDR, stolzer Vorreiter, beschäftigte 1995 insgesamt 156 ausländische Mitarbeiter:innen – tja, die meisten davon im WDR-Rundfunkorchester. Mit 25 ausländischen Redakteur:innen gab sich der Sender zufrieden. Das entsprach nahezu Nichts (nämlich 0,6%), denn als größter öffentlich-rechtlicher Sender beschäftigte der WDR damals fast 4000 Festangestellte.
Unser Projekt enthielt schier überbordende Begleit-Aktivitäten im Sinne einer Diversity-Strategie. Vor allem versuchten wir, journalistische Kolleg:innen aus Gewerkschaft und Berufsverband mit an Bord zu holen und wir veranstalteten Seminare für Rundfunkpersonal und -führungskräfte, um Medienunternehmen Anregungen zu geben, ihre Personalpolitik und Programmgestaltung zu überprüfen und zu verändern. Wir luden zu internationalen Tagungen, sogar im Europarat in Straßburg mit dem Titel „European Broadcasters for a multicultural Europe“, bei denen z.B. unsere britischen Partner von der BBC das dortige Modell vorstellten. In der Zentrale und in jedem Lokalstudio musste eine Beschäftigtenquote von Minderheiten erreicht werden, die ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Sie zeigten auch die dadurch entstandenen erfolgreichen und teilweise legendären Reportagen, Filme und Serien (Bsp.: „Eastenders“).
Dabei war unser hoffnungsfroher Plan, trotz schon einjähriger Kooperationsgespräche mit den Rundfunkanstalten, sehr schnell über den Haufen geworfen. Es gab keinen Weg in die regulären Volontariate. Eine oder zwei der ausgewählten – und vom Europäischen Sozialfonds subventionierten – 20 jungen Frauen pro Sendeanstalt aufzunehmen, das wurde verweigert, obwohl in der Auswahlkommission für die fast 100 Bewerberinnen Vertreter der Rundfunkanstalten saßen.
Entschlossen realisierten wir im Grimme Institut in Marl selbst ein eigenständiges Medientraining mit von den Sendeanstalten anerkannten Ausbilder:innen und brachten danach alle Frauen für ein Jahr in Volontariatspraktika bei z.T. wechselnden, auch privaten Medienunternehmen unter. Der Akquise-Aufwand war unglaublich groß, die Unzufriedenheit der Volontärinnen nagte an uns. Aber das „Grimme-Volontariat“ verhalf unmittelbar nach Abschluss mehr als der Hälfte der Volontärinnen zu einer z.T. befristeten Festanstellung, das Projekt machte Furore, doch unser Eindruck war: Die Medienlandschaft ist nicht reif für solche Öffnungsprozesse, die Widerstände sind nicht zu knacken
Es hat sich etwas getan: Mein Lichtblick ist, dass heute deutlich mehr Journalist:innen mit Migrationsgeschichte in Radio und Fernsehen tätig sind; ihre Anwesenheit in den Medien ist selbstverständlicher geworden. Es ist nicht nur meine „gefühlte Wahrheit“. Letzte Woche bei den Antidiskriminierungstagen wurde bestätigt, dass sich die Repräsentanz von Migrant:innen in Medien verbessert hat. Und übrigens auch in der Kulturszene, in Literatur, Theater und Podcasts.
Konkrete Zahlen zu erheben ist nach wie vor schwierig. Von ca. 5 Prozent migrantischen Redakteur:innen können wir heute ausgehen. Während wir uns noch die Zähne ausgebissen haben, achten heute „immer mehr Medienhäuser (…) darauf, Stellen so auszuschreiben, dass sich auch Menschen nicht-deutscher Herkunft angesprochen fühlen“. Im ZDF und beim WDR werden Zweisprachigkeit oder „vielfältige kulturelle Hintergründe“ besonders begrüßt. Immer noch aber sind z.B. Großbritannien und Irland mit klaren Zielvorgaben weiter.
Das recherchierten die „Neuen deutsche Medienmacher*innen“ 2020
Und hier kann ich ein zweites Feld anschließen: Selbstorganisationen von Migrant:innen sind heute akzeptierter, Statements z.B. der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO) werden öffentlich wahrgenommen. Migrantinnen und Migranten und Persons of Color können so für ihre Schutz- und sozialpolitischen Rechte eintreten und ihre Positionen einbringen, auch, aber nicht nur, als „Expert:innen für die Einwanderungsgesellschaft“
Ich freue mich über diese positiven Entwicklungen besonders, weil die soziale und politische Partizipation von Migrant:innen durch Selbstorganisationen ein Schwerpunkt meiner Arbeit in den sieben Jahren im Landeszentrum für Zuwanderung in NRW war. Kooperationen, die ich auch an der KHSB weiterführen konnte.
Auch die „Zahl der Abgeordneten mit Einwanderungsgeschichte in Bund und Ländern ist in den letzten 30 Jahren kontinuierlich gestiegen“
Doch es bleibt viel zu tun. „Es gibt zu wenig Fortschritt”, wie die neuen deutschen organisationen, ebenfalls eine migrantische Organisation, kritisieren. Oder, wie der Sachverständigenrat 2019 hinsichtlich der Zugänge zum Arbeitsmarkt für Migrant:innen schrieb: Es gibt „Verbesserungen, aber Unterschiede bleiben“
Damit komme ich zum Arbeitsfeld der Kindheitspädagogik: Eine Untersuchung des BMFSFJ von 2021
Nicht fehlen dürfen die Lichtblicke, die von EPIZ ausgehen, dem Verein für Globales Lernen, bei dem ich meine ersten drei Jahre in Berlin arbeiten durfte. Drei meiner Kolleginnen sind hier, was mich sehr glücklich macht. Ende letzten Jahres hat EPIZ den, wie ich finde, mutigen und so dringend nötigen Schritt getan und eine Veranstaltungsreihe begründet, in der Juden und Jüdinnen und Palästinenser:innen ins Gespräch gebracht werden und die Sprechenden sind, mitten in Neukölln. Morgen findet die vierte Veranstaltung der „Räume gegen Eskalation“ statt, Thema: „Welche Rolle spielen historische wie gegenwärtige traumatische Erfahrungen für Juden*Jüdinnen und Palästinenser*innen?“
Ein Ausblick: In diesem Jahr 2025 haben sich die weltpolitischen Perspektiven in vielerlei Beziehung weiter verdunkelt. Aber: Während Frau Klöckner von den Kirchen politische Enthaltsamkeit fordert, sendet uns die katholische Kirche einen Lichtblick. Nach dem Bild, das ich mir bisher machen konnte, wird der neue Papst Leo XIV (ehem. Kardinal Prevost) den Vatikan noch stärker zu einem Ort der Vermittlung machen, und für gerechten Frieden, Freiheit, Demokratie und soziale Rechte eintreten.
Er wird damit allen, die an der Verwirklichung dieser Ideale arbeiten, hier in der Hochschule und weltweit, den Rücken stärken.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Im Kontext der amerikanischen Wahlen von 2024 erschien zu eben diesem Thema eine eher unscheinbare Randnotiz in der FAZ, betitelt „Vor 60 Jahren”. Sie erinnert den Leser daran, dass 1964 nicht nur Lyndon B. Johnson (Demokraten) und Barry Goldwater (Republikaner) als Präsidentschaftskandidaten zur Wahl standen, sondern auch ein gewisser John Birks, besser bekannt als Dizzy Gillespie (1917-1993). Gillespie, einer der bekanntesten Jazzmusiker des 20. Jahrhunderts und wichtiger Repräsentant des als Bebop bekannten Stils, hatte seine Entscheidung bereits beim Monterey Jazz Festival im Herbst des vorhergehenden Jahres musikalisch angekündigt durch einen, wie er es nannte, campaign song – eine leicht abgeänderte Variante eines seiner bekanntesten Stücke, Salt Peanuts. Aus Salt Peanuts wurde Vote Dizzy:
Vote Diz, Vote Diz, Vote Diz
Vote for Diz, Vote for Diz
He’ll show you where it is
Vote Dizzy! Vote Dizzy!
You want a good President who’s willing to run
Vote Dizzy! Vote Dizzy!
You want to make Government a barrel of fun
Vote Dizzy! Vote Dizzy!
Your politics oughta be a groovier thing
Vote Dizzy! Vote Dizzy!
So get a good President who’s willing to swing
Vote Dizzy! Vote Dizzy!
Show the Republic where it is
Give them a Democratic Diz, really he is
Your political leaders spout a lot of hot air
Vote Dizzy! Vote Dizzy
But Dizzy blows trumpet so you really don’t care
Vote Dizzy! Vote Dizzy!
You oughto spend your money in a groovier way
Every cent
Get that badge of the people’s only candidate
Dizzy for President!
(Lyrics by Jon Hendricks)
Dizzy’s Kampagne wurde unterstützt von der John Birks Society – in Anspielung auf Dizzys Geburtsnamen, aber natürlich vor allem auf die ultrakonservative John Birch society, die den republikanischen Kandidaten Barry Goldwater und andere extreme Politiker unterstützte. Als Pressesprecher von Dizzy’s Kampagne fungierte der Jazz Kolumnist Ralph Gleason und als Dizzy’s Beraterin dessen Frau, Jean Gleason.
In diversen Pressekonferenzen und in Interviews führte Dizzy Gillespie genauer aus, auf was seine Kampagne und sein Programm abzielten. Generell ging es Dizzy und seinen Wahlhelfern um eine progressivere Ausrichtung, vielleicht sogar eine radikale Wende in der amerikanischen Außenpolitik, vor allem in Bezug auf den Dekolonisationsprozess, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem in Afrika und Asien eingesetzt hatte. Die gleiche antirassistische Ausrichtung spiegelte sich auch in der Unterstützung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den USA selber wieder, insbesondere in deren Kampagnen zur Wählerregistrierung prinzipiell wahlberechtigter Schwarzamerikaner im Süden der Vereinigten Staaten. Letztere wurden besonders effektiv vom Congress of Racial Equality (CORE) und Martin Luther King’s Southern Christian Leadership Conference (SCLC) betrieben. Beide Organisationen profitierten von Benefizkonzerten Gillespies‘ während seiner Präsidentschaftskampagne.
Neben dieser generellen Ausrichtung fanden sich aber auch eine Reihe bedeutender symbolische Signale im Programm. Diese wurden meistens mit einem Schuss Humor vorgestellt. Hier ist eine Liste mit Vorschlägen aus Dizzys Wahlprogramm (die meisten Punkte waren, wie man sogleich sieht, ironisch-subversiven Charakters und provokatorisch gemeint):
- Das Weiße Haus sollte umbenannt werden in The Blues House;
- Alle Staatsanwälte und Richter in den Südstaaten sollten farbig sein, damit die Frage der Rassenungleichheit besser angegangen werden könne;
- ‚Ein Bürger – eine Stimme’ (‘one man, one vote’) sollte das zentrale Motto sein. Man sollte, so lautete ein Vorschlag von einer von Dizzys Pressekonferenzen, den Frauen die Politik vielleicht sogar vollständig überlassen, sie wüssten schon aus Erfahrung, wie man Gesellschaft besser gestalte;
- Das Arbeitsministerium solle bestimmen, dass Personen, die sich auf eine Stelle bewerben, eine Gesichts- und Kopfbedeckung tragen, so dass der Arbeitgeber die Hautfarbe des Bewerbers nicht erkennen kann. Die Kopfbedeckung sollte natürlich farbig (coloured) sein.
- Alle Botschafter sollten zurückgerufen werden und durch Jazzmusiker ersetzt werden; diese verstünden die Realitäten dieser Welt besser und seien deshalb auch besser qualifiziert für den Job;
- Jukeboxbetreiber sollten höhere Abgaben an Musiker und/oder deren Interessenvertretern bezahlen, vor allem, weil Plattenaufnahmen den Livemusikern den Job wegnähmen;
- Miles Davis sollte der neue Chef der CIA werden, Max Roach Verteidigungsminister, Charles Mingus Friedensbotschafter, Ray Charles Direktor der Library of Congress, Duke Ellington Außenminister, Louis Armstrong Landwirtschaftsminister, Peggy Lee Arbeitsminsterin, Ella Fitzgerald Bildungsministerin, Jeannie Gleason Finanzministerin, Mary Lou Williams Botschafterin im Vatikan, Malcolm X Oberstaatsanwalt, und Thelonious Monk Sonderbotschafter mit besonderen Vollmachten. Weitere wichtige Jobs sollten an Carmen McRae, Benny Carter, Woody Herman und Count Basie gehen. Vizepräsidentin würde Ramona Crowell, eine offizielle Repräsentantin der Sioux. Als Laureat Poet war John Hendricks, Dizzys Sänger, vorgesehen.
Um größere Kosten zu vermeiden und die Kampagne überhaupt ins Rollen zu bekommen, sollte Dizzy Gillespie als sogenannter Write-In Kandidat fungieren (das amerikanische Wahlrecht erlaubt es, den Namen eines Wunschkandidaten auf den Wahlschein zu schreiben um, bei genügender Zahl der Stimmen, gewählt zu werden). Jazzkonzerte im ganzen Land sollten dazu beitragen, die Kampagnen zur Wahlberechtigung, Registrierung und Beteiligung von Schwarzen vor allem im Süden der Vereinigten Staaten zu fördern.
Für Gillespie war immer klar, dass es sich in erster Linie um eine symbolische Kampagne handelte; aber selbst eine rein symbolische Kampagne konnte einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur darstellen, vor allem wenn man sich den politischen Kontext speziell dieser Kampagne vor Augen führt, handelte es sich doch bei den Wahlen 1964 um eine echte Schicksalswahl.
Im Zuge des sich verschärfenden Kalten Krieges hatten einige Berater und Mitarbeiter im State Department (also im Außenministerium der amerikanischen Regierung) erkannt, dass moderner Musik und vor allem dem immer populärer werdenden Jazz eine wichtige diplomatische Funktion zukam. Die sogenannten Jazz Embassadors of the World, darunter vor allem Louis Armstrong, Duke Ellington und Dizzy Gillespie, tourten auf Einladung oder Bitte des State Departments nicht nur in der Sowjetunion und deren Satellitenstaaten, sondern auch in den Entwicklungsstaaten Afrikas und Asiens, vor allem dort, wo sich radikale Veränderungen im Zuge des Dekolonisierungsprozesses abzeichneten. Die neuen Unabhängigkeitsbewegungen kündigten potentielle Blockverschiebungen an, die im Kalten Krieg natürlich von zentraler Bedeutung waren.
In diesem Kontext lautete die amerikanische Botschaft vor allem: dort wo es Jazz gibt, existieren auch Freiheit und Demokratie. In der Sowjetunion (SU) und deren Satellitenstaaten gab es keine solche öffentlichen Aufführungen und unkontrollierten Freiräume, und das machte Jazzkonzerte in der SU und den mit ihr verbundenen Bruderstaaten immer zu einer politischen Herausforderung. Hinzu kam die klassische Ausrichtung in Bezug auf Musik; die kommunistischen Staatsparteien hielten letztendlich (wie auch ein bekannter deutscher Philosoph) Jazz für einen Ausdruck kultureller Barbarei und nicht zuletzt durch ihren Improvisationscharakter im Stil und auch in ihrer Ausführungspraxis politisch für nur schwer kontrollierbar.
Wie komplex sich die Geschichte des Jazz in diesen Ländern gestaltete, der ‚Vorteil‘ im Sinne kulturellen Kapitals – wenn man es so ausdrücken darf – bestand darin, dass Jazz in der Tat eine durch und durch amerikanische Erfindung war (dort vor allem in urbanen Räumen, weniger auf dem Lande). Aber es war eben auch eine Erfindung besonderer Art, da die Entstehung dieser Musikrichtung nicht als von ihren afrikanischen Wurzeln getrennt gesehen werden konnte. Dieser Umstand erklärt, dass es besonders im Falle der neuen, im Entstehen begriffenen, afrikanischen Staaten zu einer wahren Jazz-Offensive in der Diplomatie der Vereinigten Staaten kam (man denke nur an den Kongo, Nigeria, oder Südafrika.) Aber auch in Nordafrika, Vorderasien und selbst in Lateinamerika erfreuten sich die amerikanische Jazz-Offensive und deren bekannteste Botschafter großer Beliebtheit.
Aber hier ergab sich nun, zumindest längerfristig gesehen, ein Problem. In den ersten Nachkriegsjahren waren die meisten Jazzmusiker nur zu gerne bereit gewesen, weltweite Touren zu unternehmen, halfen diese doch die oft prekäre Lebenssituation der Musiker zu verbessern und an Popularität zu gewinnen, von der Freude am Spielen in Sessions und den Aufführungen von Konzerten mal ganz zu schweigen. Nicht zuletzt ermöglichten diese Tourneen neue Kontakte, und Reisen und Begegnungen erweiterten den musikalischen Horizont.
Das Problem, dass sich im Verlauf dieser diplomatischen Kampagne stellte, war zum einen, dass nicht alle Politiker und alle Beamte im amerikanischen Außenministerium Jazzfans waren; zum anderen behagte der Versuch, Jazzbotschafter- und musiker als Propagandisten zu missbrauchen, den betreffenden Künstlern immer weniger. War es nicht ein fundamentaler Widerspruch, dass man bei den Tourneen, Konzerten und Pressekonferenzen das Banner von Freiheit und Demokratie hochhielt; dass aber die gleichen Musiker, wenn sie dieselben Werte und Ziele in den USA und insbesondere im Süden der USA propagierten, eben oft Leib und Leben riskierten und ihre berufliche Existenz durch die Rassentrennung (vor allem im Kontext von Live-Auftritten) immer wieder bedroht sahen? Die Ereignisse vor allem in Alabama – am 15. September 1963 starben in Birmingham vier junge schwarze Mädchen bei einem vom Ku Klux Klan organisierten Bombenanschlag – und die Entwicklungen und Konfrontationen in Oklahoma (der Civil Rights sit-in, der Protest gegen die Rassentrennung in den Schulen sowie die offen rassistischen Reaktionen gegenüber diesen Protesten) schockierten und radikalisierten auch die Jazzmusiker. Man konnte und wollte nicht in ‚rassen‘getrennten Clubs spielen, in getrennten Bussen und Zügen reisen oder in segregierten Hotels übernachten. Auch im Falle gemischter Bands konnte man oft nur unter Bedrohung spielen (oder eben auch nicht, was nicht selten der Fall war). Dies alles waren existentielle Fragen. Amerika war am Scheideweg und es zeichnete sich immer mehr ab, dass die anstehenden Präsidentschaftswahlen auch Wahlen waren, die für die Rassenpolitik der USA und ihre Abschaffung entscheidend sein würden.
Als Präsident hatte John F. Kennedy angekündigt, dass die föderale Regierung Schritte unternehmen würde, um die amerikanische Rassenpolitik und die Doktrin ‚separate but equal‘ auch im Alltagsleben aller Amerikaner, und das heißt in allen Bundesstaaten, zu einem Ende zu bringen. Bereits 1954 hatte das höchste Gericht in seinem Brown vs. Board of Education Urteil die Rassentrennung und die sie betreffenden Gesetze als nicht verfassungskonform erklärt. Gleichwohl sollte es noch Jahre dauern, bis alle Rassentrennungspraktiken und Gesetze diesem Beschluss Folge leisten sollten.
Nach der Ermordung Kennedys im November 1963 hatte, wie in der Verfassung vorgesehen, der Vizepräsident – in diesem Falle der aus Texas stammende Lyndon B. Johnson – das Amt des Präsidenten übernommen. Johnson erklärte sich auch bereit, als Kandidat der Demokratischen Partei für die für 1964 anstehenden Präsidentschaftswahlen zu fungieren. Diese Kandidatur bedeutete, dass Johnson sich zunächst als der führende Bewerber der Demokraten durchsetzen musste, um dann gegen den republikanischen Kandidaten anzutreten.
Die Demokraten waren im Süden der Vereinigten Staaten, d.h. nach den Erfahrungen des Bürgerkrieges, dem Ende der Reconstruction und dann nach dem New Deal Roosevelts zu der Partei aufgestiegen, der die weißen Wähler dieser Staaten am meisten Vertrauen schenkten – galt die Republikanische Partei doch immer noch als die Partei Lincolns, also als der Gewinner des Bürgerkrieges und als ‚schwarze‘ Partei, die die Abschaffung der Sklaverei organisiert hatte und somit zur Niederlage der Konföderierten entscheidend beigetragen hatte. In Teilen der Demokratischen Partei äußerten sich die Ressentiments sogar dahingehend, dass es zur Androhung offener Abspaltung kam, wie vordem im Falle der sogenannten Dixiecrats. Für den Texaner Johnson, von dem die Demokratische Partei erwartete, die wichtigsten Südstaaten zu gewinnen, ohne jedoch progressivere demokratische Wähler im Norden abzuschrecken, bedeuteten die zwei Kampagnen (erst für die Wahl zum Kandidaten der Demokratischen Partei und dann als offizieller Präsidentschaftskandidat der Partei gegen den Kandidaten der Republikanischen Partei), sich auf eine politisch sensitive, um nicht zu sagen heikle Gratwanderung einzulassen.
Im Zuge der beiden Kampagnen war zunächst für den kritischen Beobachter nicht immer ganz klar, wo LBJ politisch stand, vor allem was die dringend anstehenden rechtlichen Reformern und die weiteren Schritte zur politischen und sozialen Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung anging. Der Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei, der aus Arizona stammende Senator Barry Goldwater, hatte sich gegen den liberalen Flügel der Republikaner, die sogenannten Rockefeller Republicans, durchgesetzt. Goldwater konnte auf eine konservative Basis zählen, vor allem in den Südstaaten und im Westen. Er war als Kalter Krieger bekannt und als Gegner weiterer Civil Rights Gesetzgebung. Der Ton, der zuweilen von Goldwater angeschlagen wurde, näherte sich nicht selten dem eines Extremisten.
Für Dizzy Gillespie war klar, mit beiden offiziellen Kandidaten sah die Zukunft nicht rosig aus. Erst viel später in der Kampagne, als deutlich wurde, dass Johnson der Civil Rights Gesetzgebung erheblich positiver gegenüberstand als ursprünglich angenommen, gab Gillespie seine Kampagne auf und rief dazu auf, Johnson zu wählen.
Bei Dizzy Gillespies Kandidatur handelt es sich, soziologisch ausgedrückt, um ein prominentes Beispiel der Bedeutung von Performanz, also von Sprechhandeln in dem Moment seiner Ausführung und Konkretisierung. Durch solches Sprechhandeln tritt das Annehmen einer Rolle in den Vordergrund. Im Falle Gillespies wird zudem der Prozess radikaler Selbsterkenntnis beim Spielen dieser Rollen angedeutet. Nicht umsonst war Dizzy Gillespie bei seinen Kollegen und Bandmitgliedern bekannt für seine zahlreichen Scherze und humoristischen Eskapaden. Doch beim Kampf um die Civil Rights ging es nun um mehr als nur die traditionelle Rollenerwartung als Spaßmacher.
Die Soziologie kennt ja seit Ervin Goffman die Unterscheidung von Skript, Frontstage und Backstage, die Differenz von unterschiedlichen Erwartungshaltungen, von Rollenübernahmen, und letztlich auch die Unterscheidung von Publikum und Ausführenden. Die Diskussion unter Jazzmusikern, wie man auf die amerikanischen Bedingungen jener Jahre, auf deren Rassenpolitik und insbesondere im Kampf um die Bürgerrechte zu reagieren gedenke, aber auch was es heißt, unter geänderten Bedingungen musikalischer Botschafter zu sein, indizierte eine weitere wichtige Diskussion, nämlich die um die existentielle Selbstbehauptung. Das heißt, hier geht es im Wesentlichen um Selbstdefinitionen und Selbstfindung, oder mit anderen Worten um Identität bzw. Nichtidentität als Schwarzer, als Amerikaner, und nicht zuletzt als Jazz Musiker, inklusive der möglichen Kombination dieser drei Aspekte.
Der Schriftsteller Ralph Ellison (Autor von Invisible Man) hat versucht, dieser Komplexität der Selbstfindung literarisch und musikalisch Ausdruck zu verschaffen (Ellison selber war Trombone Spieler, Jazz Afficionado und Duke Ellington Fan). In mehreren seiner Essays und Interviews zum Thema hat Ellison provokant formuliert, dass Amerikas Identität und das seiner Bürger ‚Jazz-shaped‘ sei, also dem Jazz nachgebildet sei. Ellisons Kommentare richteten sich vor allem gegen die radikalisierte und zum Teil Gewalt bejahende Rhetorik des sich im Aufbruch befindenden radikalen schwarzen Nationalismus und Afrikanismus. Diese Radikalisierung zeichnete sich auch, und vielleicht dort sogar zuerst, in der Jazzszene ab, denken wir nur an Namen wie Abbey Lincoln, Max Roach, Charles Mingus, John Coltrane oder den Musikkritiker Leroi Jones aka Amiri Baraka.
Welche Bedeutung und wie genau durch Jazz eine symbolische Fusion zwischen Aufführenden und Hörern/Publikum gelingt, hängt jedoch von vielen, nicht zuletzt außermusikalischen, politisch-gesellschaftlichen Faktoren ab. Dennoch bleibt: Einige der mehr oder wenigen gelungenen Formen fanden vor allem im Jazz ihren ersten modernen Ausdruck. Ein solch angestrebtes und z.T. auch gelungenes symbolisches Fusionieren ist kein geringer Beitrag zur radikalen Reform einer Gesellschaft, selbst dann, wenn es sich zunächst nur um kleinere Gegenöffentlichkeiten handelte. Das ist ein erstes wichtiges Fazit, dass man aus Dizzy Gillespies basisorientierter Präsidentschaftskampagne ziehen kann. Mehr als 60 Jahre danach hat diese Lektion nicht an Bedeutung verloren.
Ulrike Brizay - Wird bald veröffentlicht!